AKANTHOS Akademie

Texte und Hintergründe zur Sozialen Dreigliederung


Ich als Dreigliederung - ein neues Menschenbild

Von Salvatore Lavecchia

Salvatore Lavecchia (1971) ist Professor für Geschichte der Antiken Philosophie und Dozent innerhalb des Masters “Meditazione e Neuroscienze” an der Universität von Udine. Seit mehreren Jahren bemüht er sich um eine Philosophie des Ich, das einerseits den Sinnesorganismus als Ichorganismus ernst nimmt, andererseits ins Gespräch mit den spirituellen Strömungen des Ostens und des Westens treten kann. Neueste Buchveröffentlichungen: Ichsamkeit (2018); Immagini della luce (hrsg. 2019); Un io dialogico. Antroposofia dei sensi (2020).

Zusammenfassung 

Schon die historischen Vorgänger der sozialen Dreigliederung zeigen ein Menschenbild als eigene Quelle, das, im Unterschied zum heute gängigen reduktionistischen Bild, den Menschen als lebendige Einheit von Geist. Seele und Leib betrachtet. Dieses Menschenbild wird von Rudolf Steiner in zeitgemäßer Form vorausgesetzt, mit der Betonung des Ich als geistige Mitte, die ausgehend von der eigenen Kraft und Freiheit jene Einheit immer mehr offenbaren kann. In Bezug auf die soziale Dreigliederung impliziert dies, dass jeder Mensch in sich die Einheit des Geistes-, Rechts- und Wirtschaftslebens verkörpern sollte. Im Gegensatz dazu steht das Bild des Ich, das der Vorstellung eines von der Welt und von den anderen Menschen getrennten, finsteren Atoms entspricht. In Steiners Horizont kann es sich nur um ein Bild des Ich handeln, das sowohl eine Mitte als auch eine Sphäre aus geistiger Wärme und geistigem Licht darstellt. Anhand des Ereignisses des Verstehens versucht dieser Beitrag zu zeigen, wie dieses Bild in die Grunddynamik der sozialen Dreigliederung einführen kann.

 

Der Mensch als Quelle


Die historischen Wurzeln der sozialen Dreigliederung. Ihr Bezug zum Menschen, nicht zu abstrakten Modellen

Das Streben danach, Gemeinschaften dreigliedrig (trifunktional) zu gestalten, prägte die Geschichte der Menschheit seit altehrwürdigen Zeiten: Diejenigen, die ein Erleben des Geistigen erlangen konnten, die PriesterInnen/Eingeweihten, waren dazu berufen, der Gemeinschaft durch ihre direkte Verbindung mit dem Göttlichen Lebenskräfte und schöpferische Gestaltungsimpulse zu spenden; die KönigInnen/Herrschenden und Krieger sollten jenen Kräften und Impulsen Form geben und in der Begegnung mit anderen Gemeinschaften hüten; diejenigen, die in den verschiedenen Bereichen der Produktion/Wirtschaft beschäftigt waren, sollten der Gemeinschaft die irdische Nahrung liefern, die ihr Fortbestehen in der sichtbaren Welt ermöglichte. Im europäischen Kulturraum hat Platon in der Politeia eine mustergültige Verdichtung dieses idealen Bildes geschaffen. Ebenso mustergültig ist in Platons Politeia die Betonung der Tatsache, dass die gerechte Gemeinschaft ein treues Abbild der menschlichen Seele sein soll, die sich selbst stimmig gestaltet und somit das Wesen des Menschen gerecht offenbart: Die gerechte Gemeinschaft spiegelt das Wesen des Menschen wider, und folglich wirken in ihr abbildhaft die gleichen Prinzipien und Wirklichkeiten, die sich im gerechten Individuum urbildhaft offenbaren (Politeia 368c7-369a3, 433c4-d9, 441c5-d10, 580d3-4). In anderen Worten: Die stimmige Gestaltung der Gemeinschaft kann in diesem Horizont nicht durch Implementierung abstrakter Theorien stattfinden, die das Wesen des Menschen entweder ignorieren oder ausblenden; sie ist nur dann möglich, wenn das Wesen des Menschen als ihre Quelle betrachtet wird. Harmonische Gemeinschaftsbildung ist ohne Erkenntnis des Menschen schlicht unmöglich! Diese für die antike Welt selbstverständliche Voraussetzung ist ab einem gewissen Punkt in Vergessenheit geraten. In der modernen, postmodernen und hypermodernen Zeit setzt sich nämlich die Tendenz immer mehr durch, die Gestaltung der Gemeinschaft aufgrund einer Wissenschaft zu lenken, deren Methode der Betrachtung des Unorganischen entstammt und trägerweise der Betrachtung des Menschen aufgezwungen wird. So kehrt sich die Perspektive im Verhältnis zur Antike um, und nicht mehr die Konkretheit des Menschen, sondern abstrakte Theorien, Modelle, Programme werden immer mehr als Quelle der Gemeinschafsbildung verwendet: Das moderne, postmoderne, hypermoderne Bild einer “funktionierenden”, heute immer mehr smarten Gemeinschaft, ist nicht mehr Abbild des Menschen, sondern der rein biologisch, und deshalb kollektivistisch verstandene Mensch muss sich den berechenbaren Gesetzmäßigkeiten und Automatismen beugen, die eine immer mehr mathematisierte – heute immer mehr digitalisierte – Wissenschaft entdeckt. Rudolf Steiners Charakterisierungen des dreigliedrigen sozialen Organismus, sowie seine Versuche in den Jahren ab 1917, eine dreigliedrige Gestaltung der Gemeinschaften anzuregen, wollten diesem entmenschlichenden Horizont der Gemeinschaftsbildung gegenüber zu einer Neuorientierung ermutigen: Weg von Programmen, Theorien, Plänen, hin zu einer zeitgemäßen Erkenntnis, Vertiefung, Phänomenologie des Menschen und seines Lebens, die endlich wieder als Quelle betrachtet werden sollten. Die Alternative zu dieser Neuorientierung wäre – so Steiners häufige Warnung – die Begegnung der Menschheit mit immer mehr erschütternden materiellen sowie sozialen Katastrophen. 

 


Duales und triales Menschenbild


Die Dualität von Leib und Psyche fördert zentralistische Gestaltung. Die Dreiheit von Leib, Seele, Geist als alternativer Horizont 

 

[1] Für diesen mathematisch geprägten Monismus vgl. M. Tegmark, Our Mathematical Universe. My Quest for the Ultimate Nature of Reality, New York 2014; ders., Life 3.0. Being Human in the Age of Artificial Intelligence, New York 2017.

  

[2] Siehe The Open Conspiracy, London 1928, und The New World Order, London 1940.

Das Menschenbild, das gegenwärtig die gewöhnlich anerkannten Modelle der sozialen Gestaltung leitet, betrachtet den Menschen als Dualität von Leib und Psyche/Intelligenz (Mind). Dabei werden Psyche und Intelligenz, sowie das sich durch sie manifestierende Selbst, als Phänomene betrachtet, die, bar irgendwelcher wirklichen, geistigen Autonomie, aus neurophysiologischen sowie soziokulturellen Dynamiken emergieren, die eine immer mehr zu mathematisierende Wissenschaft beherrschen sollte. Dieses duale Bild, das sich im 19. Jahrhundert definitiv etablierte, impliziert somit einen starren Monismus, ein Einheitsdenken, in dem ein früher oder später komplett mathematisierbares – heute digitalisierbares –, geistloses Anorganische die einzige Quelle der Wirklichkeit darstellt.[1] Ausgehend von diesem Menschenbild ist es nicht überraschend, wenn als ideales Gemeinschaftsbild auf allen Ebenen – lokaler, regionaler, nationaler, globaler – dasjenige betrachtet wurde, und immer mehr wird, in dem eine – sei es nationale sei es transnationale sei es globale – staatsförmige/zentralisierte Autorität alle Dimensionen des Lebens mehr oder weniger direkt regiert und gestaltet, in sich alle wirkliche Macht konzentrierend. Dieses einheitsstaatliche Bild, das konsequenterweise in die Vorstellung einer Weltregierung mündet – die in Herbert George Wells ihren ersten Popularisierer hatte[2] –, ist nichts anderes als Widerspiegelung jener mathematisierbaren, einheitlichen, anorganischen Urquelle aller Seinsformen, die das heute herrschende Wissenschaftsparadigma voraussetzt. Und da der Mensch dieser Urquelle gegenüber eine Illusion darstellt, soll sich der Mensch religiös den mathematischen – heute digitalen – Dynamiken beugen, die sich dieser postulierten Urquelle annähern und sie offenbaren können. Die Weltreligion eines abstrakten, mathematisch wirkenden Einen wird dadurch geboren, deren Offenbarungen immer mehr durch künstliche Intelligenzen vermittelt werden und durch eine Weltdiktatur vermeintlicher – gleichgültig ob menschlicher oder digitaler oder poshumaner! – ExpertInnen für die unmündigen, kollektivierten Massen verwaltet werden sollen. Das duale Menschenbild führt den Menschen zur hypertechnisierten Auflösung in den Abgrund dieses abstrakten Einen, das jeglichen Begriff der Freiheit und der Liebe molochartig in eine trostlose Sinnlosigkeit einsaugt.

 

Das Menschenbild, das die antike Spiritualität zur Dreigliederung der Gemeinschaft anregte, steht im Widerspruch zum dualen Menschenbild. Dreigliederung der Gemeinschaft heißt nämlich stets Abbild eines trialen Menschenbildes. Der Mensch ist hier, in anderen Worten, nicht nur Leib und Psyche/Intelligenz (Mind), sondern lebendige Einheit von Geist, Seele, Leib:

 

a) Durch den eigenen Geist kann der Mensch selbst die göttliche, aus Freiheit und Liebe wirkende Quelle aller Seinsformen erleben und sie durch eigene schöpferische Intelligenz/Tätigkeit in neuen Formen offenbaren;

 

b) die Seele ist die Vermittlerin jener schöpferischen Intelligenz/Tätigkeit in der Begegnung mit der sichtbaren Welt, damit die harmonischen Verhältnisse der göttlichen Welt – Urbild aller harmonischen Gemeinschaften – sich in sichtbarer Gestalt offenbaren können;

 

c) der Leib ist sichtbare, lebendig wirkende Gestalt des Geistigen, die dank der Seele durch die eigenen vielfältigen Tätigkeiten harmonische Verhältnisse zu den anderen Menschen und zur sichtbaren Welt bilden kann.

  

In diesem trialen Menschenbild – das zum Beispiel dem Denken von Platon, Aristoteles, Plotin zugrunde lag – wird weder die Seele vom Geistigen oder vom Leiblichen verschlungen noch das Leibliche/Sichtbare als pure Illusion dem Geistigen gegenüber betrachtet. Hier handelt es sich, anders ausgedrückt, um eine lebendige Dreieinigkeit, von der die harmonische Gemeinschaft ein Abbild sein soll. Der Mensch ist diese Dreieinigkeit. Dadurch kann das menschliche Wesen, und somit das menschliche Selbst, eine wirklich eigene Autonomie bewahren und sie in einer ihm angemessenen Form geistig/seelisch/leiblich schöpferisch offenbaren.

 

In schöpferischer, zeitgemäß verwandelnder Kontinuität mit diesem trialen Menschenbild kann das Menschenbild betrachtet werden, das die Dreigliederung der Gemeinschaft im Horizont Rudolf Steiners voraussetzt.

 


Geist als Ich - jeder Mensch ist die Dreigliederung!


Jeder Mensch soll die drei Bereiche der Dreigliederung verkörpern. Das atomistische Bild ist antisozial

Im Unterschied zu älteren spirituellen und philosophischen Strömungen betont Rudolf Steiners Betrachtung des Geistigen im Menschen die Zentralität des Ich: Jeder Mensch ist an sich Geist als Ich, und sowohl die Seele als auch das Leib des Menschen sind so konstituiert, dass sie immer mehr zur Offenbarung des Ich in seelisch-leiblicher Form werden können, mithin eine Dreieinheit mit dem Geist im Ich bildend. Diese durch das Ich durchdrungene Dreieinheit impliziert wiederum einen anderen Unterschied vergangenen Impulsen gegenüber: Während der einzelne Mensch in älteren Formen der Dreigliederung vorwiegend ein Glied des sozialen Organismus standesmäßig verkörpern sollte, sollte in der gegenwärtigen Form der Dreigliederung jeder Mensch alle drei Glieder verkörpern. In der stimmig gebildeten Gemeinschaft der Gegenwart sollte nämlich jedes Ich an deren ganzheitlicher Gestaltung teilnehmen können, damit sie sich als Gemeinschaft der Freiheit und der Liebe offenbaren kann. Im Horizont Rudolf Steiners bedeutet harmonische soziale Dreigliederung demzufolge einerseits gegenseitige Autonomie von Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben, andererseits jedoch immer mehr bewusste, lebendige, schöpferische Verbindung dieser drei Lebenssphären in jedem und durch jedes einzelne Ich: durch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als Kräfte, die sich in jedem Ich als unnachahmliche, einzigartige Dreieinheit offenbaren sollen, so dass jedes Ich in ganzheitlichem Sinne als gemeinschaftsbildend wirken kann.

 

Welches Bild des Ich kann mit diesem Ideal zusammenklingen? Bestimmt nicht das atomistische Bild, nach dem das Ich ein aus physiologischen und sozialen Dynamiken emergenter, finsterer, verortbarer, und deshalb immer mehr überwachbarer Punkt sein sollte, der sich als von der Welt und von den anderen Menschen getrennt erlebt! Diesem Bild entspricht nämlich eine Gesellschaft, in der die einzelnen Menschen als kollektivierte Masse gleichsam zootechnisch durch eine möglichst einheitliche, absolute, rein animalisch verstandene Sicherheit und Gesundheit versprechende Autorität/Macht von außen verwaltet werden. Das Ich ist in einer solchen Gesellschaft vollkommen sinnlos. 

 


Ich als geistige Sphäre. Das Ereignis des Verstehens


Das Ich als Sphäre aus Wärme und Licht. Das Verstehen als Keim der Gemeinschafts-bildung

 

[3] Für eine ausführliche Vertiefung dieses Bildes vgl. S. Lavecchia Ich Sinne im LICHT, Die Drei, Jul./Aug. 2013, 48-58; ders., Das Ich und das Gute. Ansätze einer Licht-Philosophie in Anknüpfung an Novalis und Platon, Perspektiven der Philosophie 40, 2014, 9-46; ders., Generare la luce del bene. Incontrare veramente Platone, Bergamo 2015.

 

[4] Vgl. D. Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Geneaolgie der mathematischen Mystik, Halle an der Saale 1937; K. Hedwig, Sphaera Lucis. Studien zur Intelligibilität des Seienden im Kontext der mittelalterlichen Lichtspekulation, Münster 1980.

Die stimmige Dreigliederung der Gemeinschaft kann nur ausgehend von einem Bild des Ich geboren werden, das dem atomistischen Bild entgegengesetzt ist. Dieses alternative Bild begegnet uns nun in jedem Ereignis des Verstehens. In jenem Ereignis bin ich nämlich als Ich, vorurteilslos betrachtet, nicht zu verorten, weder in mir – Innen – noch im Verstandenen noch dazwischen noch an irgendwelchem Punkt des Umkreises – Außen. Und doch wirke und bin ich im Verstehen als Ich, und ich weiß es! Mein Wirken als verstehendes Ich ereignet sich mithin jenseits von Innen und Außen, im Gegensatz zur einseitigen Konzentriertheit auf ein von der Welt getrenntes Innen, die das atomistische, finstere Ich prägt: Ein verstehendes Ich ist nicht verortbare, Raum und Zeit überragende Mitte aus geistiger Wärme und geistigem Licht, die augenblicklich eine unendliche Sphäre gebiert und als diese Sphäre wirkt.

 

Im urgemeinschaftlichen Ereignis des Verstehens begegne ich einem wärme- und lichtvoll sphärenden, geistigen Wirken des Ich. Ohne dies wäre kein Verstehen, und damit kein bewusst gestaltbares Verhältnis zu Anderem möglich, was die Grundlage jeglicher Gemeinschaftsbildung vernichten würde. Diese Vernichtung wird durch ein Ich vorweggenommen, das sich als von der Welt und den anderen Menschen getrenntes Atom erlebt. Und sie wird durch eine Gesellschaft gefördert, die das Ich immer mehr in ein atomistisches Selbstbild hineinzwingt.

 

Wollen wir weiterhin glauben, dass unser Bild des Ich keine Wirkung auf die Form unseres Bewusstseins, und somit auf die Form unserer Gemeinschaften ausübt? Oder wollen wir endlich die Tatsache ernst nehmen, dass gerade unser Bild des Ich die Orientierung unserer Gemeinschaftsbildung entscheidet?

 

In welche Richtung das Bild eines geistig sphärenden Wirkens des Ich orientiert, zeigt eine knappe Vertiefung vom Bild der geistigen Wärme- und Lichtsphäre.[3] Diese Sphäre ist nämlich diejenige, in der, jenseits von Raum und Zeit, jeder Punkt Mitte ist und als Mitte wirkt, während der Umkreis nicht verortbar ist. In dieser Sphäre, auf die schon antike und mittelalterliche Quellen – ohne sie jedoch ausführlich zu explizieren – hinweisen,[4] bilden alle Bestandteile eine dynamische Einheit, wo jeder Punkt durch die eigene Offenbarung alle andere Punkte sowie die Ganzheit der Sphäre augenblicklich offenbart. Dynamisch ist diese Einheit deshalb, weil sie kein einsaugendes Zusammenfallen in ein Zentrum impliziert, das zur Vernichtung der Vielfalt führt: Einerseits besteht nichts zwischen den Bestandteilen dieser Sphäre, andererseits ereignet sich die einende Begegnung der Bestandteile so, dass sie, obwohl nicht voneinander getrennt, sich nicht gegenseitig verschlingen. Diese Begegnung kann demzufolge als Pulsation, als Rhythmus, als Harmonie von Veräußerlichung und Verinnerlichung, von Expansion und Konzentration, von Einatmen und Ausatmen verstanden werden, die sich jenseits von Raum und Zeit als ewiger Augenblick, als geistige Herzensdynamik ereignet. Dabei begegnen sich einander alle Bestandteile der Sphäre von einer gegenwärtigen, aktuellen Unendlichkeit her, jeder einen unendlichen geistigen Raum aus Wärme und Licht gebärend, in dem die augenblickliche Offenbarung aller anderen Bestandteile sowie der Ganzheit uneingeschränkt empfangen werden kann. Im Ereignis des Verstehens können wir eine Begegnung von Ich zu Ich entdecken, die eben in dieser Herzensdynamik ein stimmiges Bild finden kann: Verstehen bedeutet das bewusste Erzeugen eines unendlichen geistigen Raums, in dem Ich und das/der/die Andere einander, jenseits von Innen und Außen, frei empfangen und offenbaren können, durch das Verstehen Neues gebärend, das ohne die Begegnung nicht geboren worden wäre. Anders ausgedrückt: Im Verstehen wirken die einander verstehenden Ichwesen als sphärende Punkten/Mitten aus geistiger Wärme und geistigem Licht, die sich von der Unendlichkeit her so begegnen, dass sich ein jenseits von Innen und Außen einender Augenblick ereignet. Die sich bildende Einheit ist wiederum keine verschmelzende, sondern, wie in der geistigen Sphäre, Offenbarung einer außerzeitlichen/-räumlichen, dynamischen Harmonie, eines geistigen Rhythmus, der zugleich die unnachahmliche Individualität der sich begegnenden Ichwesen und die Ganzheit ihrer Begegnung uneingeschränkt offenbart. Diese dynamisch vielfältige, ichhafte Einheit, die sich im Ereignis des Verstehens bildet, kann als Urbild und Keim aller stimmigen Formen der Gemeinschaft empfunden werden.

 


Ich als Dreigliederung


Das Verstehen als Urphänomen der sozialen Dreigliederung

Die geistige Wärme-/Lichtsphäre als Bild des wirkenden Ich kann zeigen, wie das Wirken des Ich in der verstehenden Begegnung als Urphänomen der sozialen Dreigliederung wahrgenommen und vertieft werden könnte.

 

1) In jener Sphäre, wo alle Punkte – alle Ichwesen – als Mitte wirken, wirkt jeder Punkt – jedes Ich – als Ursprung einer unendlichen Freiheit, einer unnachahmlichen Individualität, der von der Unendlichkeit her die unendliche Freiheit, die unnachahmbare Individualität der anderen Punkte – Ichwesen – begegnet. Das unendliche, bewusst und frei aus geistiger Wärme geborene Leuchten jedes Punktes aus der eigenen geistigen Freiheit und Individualität könnte als Bild eines freien Geisteslebens wahrgenommen werden.

 

2) Alle Punkte der Wärme-/Lichtsphäre – alle Ichwesen –, wurzeln in der gleichen Mitte, und alle – alle Ichwesen – bilden zusammen, als einmalige Individualitäten, jedoch in vollkommener Gleichheit des Ursprungs und der Möglichkeiten, durch ihre uneingeschränkte Beziehung zur Mitte die überall sich selbst gleiche Ganzheit der Sphäre. Diese dynamische, durch die unerschöpfliche Wärme der Mitte geborene Gleichheit könnte als Bild eines harmonischen Rechtslebens wirken.

 

3) Die Ganzheit der Sphäre verschlingt jedoch nicht die einmaligen, dynamischen und schöpferischen Verhältnisse, die durch gegenseitiges, unendliches Schenken von Wärme und Licht die einzelnen Wärme-/Lichtpunkte mit- und untereinander sowie mit der Ganzheit der Sphäre verbinden. Dieser produktive Dynamismus könnte als Bild einer bedingungslosen Geschwisterlichkeit, und mithin aller wahrhaft produktiven Verhältnisse des Wirtschaftslebens empfunden werden. 

 


Welche Zukunft des Ich?


Die Frage nach dem Ich ist eine praktische Frage!

 

[5] The Circle, New York 2013 (Deutsche Übersetzung: Der Circle, Köln 2014).

In diesem Rahmen wird es verständlich, warum die Verwirklichung der sozialen  Dreigliederung als Frage der Bildung zu betrachten ist: Bildung eines stimmigen Menschen- und Ichbildes! Bildung, die sich konsequent als Weg zur verstehenden Begegnung und Wahrnehmung unter Ichwesen betrachten will. Die soziale Dreigliederung ist, in anderen Worten, als Horizont eines freien Geisteslebens wahrzunehmen. Wenn wir Menschen nämlich nicht durch Ideen, Begriffe, Bilder, Vorstellungen ernährt werden – nach Rudolf Steiner ist das freie Geistesleben in der Gemeinschaft das, was der Stoffwechsel im Einzelnen ist –, die das freie, geistige Wesen des Ich erleben lassen, wie werden wir je fähig sein können, eine Gemeinschaft der Ichwesen zu bilden und zu ernähren? 

 

Wollen wir weiterhin glauben, dass die Frage nach einem stimmigen Bild des Ich eine abstrakte Frage darstellt?

 

Wie unerbittlich praktisch diese Frage ist, zeigt die antimenschliche Karikatur der geistigen Wärme-/Lichtsphäre, die durch eine pervasive Digitalisierung und Überwachung gebildet werden könnte, und die Dave Eggers in ihren möglichen extremen Auswirkungen inszenierte.[5] Eine ichlose, globale Hölle der hektischen Gleichschaltung könnte sich bilden, von der das Geistesleben durch allmächtig gewordene Rechts- und Wirtschaftsleben verschlungen, der Mensch zu einem psychotischen, von Todesangst besessenen Emotionenklumpen, zu einer in sich zusammengeschrumpften Verknäuelung aus psychosomatischen Reizen und Reaktionen verwandelt werden könnte. Entgeistigung und Versklavung durch Reduktion des menschlichen Ich auf somatische und psychische Faktoren ist die Voraussetzung für die definitive Verwirklichung dieses Szenario, das ist für den Tod des authentisch menschlichen Geisteslebens, und mithin nicht nur des menschlichen Geistes, sondern auch der menschlichen Seele. Für die Verwirklichung dieser Voraussetzung werden zwei tödliche Waffen rasch und effektiv eingesetzt: ein atomistisches Bild des Ich und ein duales Menschenbild, das dem Ich, der Intelligenz, der Seele keine geistige Wirklichkeit zukommen lässt. Diese Waffen entspringen einem Geistesleben, die gegen die Freiheit des Ich unerbittlich, und zugleich unverschämt einlullend heuchlerisch, kämpfen will, und deren tragende Kräfte sich seit mehr als einem Jahr immer mehr demaskiert offenbaren. Die Wirkung dieser Waffen kann demzufolge allein durch ein freies, vom Ich getragenes Geistesleben geschwächt und neutralisiert werden!

  


Die Gegenwart einer Aufgabe


Das Ich als Quelle einer harmonischen Dreigliederung der Gemeinschaft

Nur das freie Leben meines Geistes, meines Ich, kann mir das Bewusstsein schenken, dass mein Ich als Quelle einer stimmigen Dreigliederung der Gemeinschaft wirken kann:

 

1) Als freies Geistesleben in jeder wahrhaftig schöpferischen Tätigkeit – gleichgültig ob Geschirrwaschen, Entwicklung eines Medikaments, Bildung eines Kapitals, Schöpfung eines Kunstwerkes, Erziehung und Unterricht –;

 

2) als Gleichheit gebärendes Rechtsleben, in der Gleichheit keine bloß horizontale, entmenschlichende Gleichschaltung, sondern ichhafte, schöpferische Begegnung in einer gemeinsamen geistigen Quelle bedeutet;

 

3) als geschwisterliches Wirtschaftsleben, das sich in jedem Verhältnis offenbart, in dem ich dem anderen Menschen durch meine Arbeit Freiheit von der Enge der leiblichen und seelischen Bedürfnisse schenken kann.

 

Die daraus entstehende dreigegliederte Gemeinschaft bildet keine kollektivierende Wir-Gemeinschaft, sondern eine Ich-Gemeinschaft jenseits der ersten, zweien, dritten Person singular oder plural. Denn hier ist das Ich nicht der in der Perspektive der ersten Person eingekapselte Atom, sondern überpersönliches Wirken, das eine geistige Wärme-/Lichtsphäre der Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit offenbart. In diesem Horizont können noch heute Schillers Worte als Aufgabe fruchtbar erklingen: Keiner sei gleich dem andern, doch gleich sei jeder dem Höchsten. / Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.

 

In einer Gegenwart, in der staatliche Macht Gleichheit lediglich horizontal, das heißt nur als rechtlose, biopolitische Bestimmung durch Angst vor dem Tode zu betrachten scheint, mögen diese Worte als eindringliche Mahnung wirken.